Skip to content

Ode an den Schreibtisch

Lieber schwarzer Schreibtisch, nach 29 Jahren und sechs Monaten habe ich mich heute von Dir verabschiedet.

Naja, noch nicht ganz, denn Du stehst jetzt im Kellerflur. Da stehst Du allerdings im Wesentlichen im Weg. Es ist daher davon auszugehen, dass Du im Laufe der nächsten Woche, und zwar eher Anfang nächster Woche, endgültig abreisen wirst. Vorher muss ich noch die Schubladen und das Rollfach am Seitentisch demontieren, damit Du einfacher transportierbar wirst und bei deiner Abreise keine Macken in Kellertreppe oder Kellerwände machst.

Du bist sowohl mein ältestes noch erhaltenes Möbelstück als auch mein erster Einkauf bei IKEA. Damals, als man von Hamburg noch ins ferne Kaltenkirchen reisen musste, wenn man beim Elch einkaufen wollte. Auch bei Dir habe ich die Anschaffung nachgeäfft: Gunnar hat sich im Sommer 1987 einen schwarzen BUDGET gekauft. Und da ich den von meinem Vater geerbten Schreibtisch mit den riesengroßen Schubladen, die bequemes Sitzen unmöglich machten, wirklich satt war, habe ich meine Eltern davon überzeugt, dass es Zeit wird, einen neuen, zeitgemäßen Schreibtisch zu kaufen.

Schwarz musstest Du sein. So hat man das damals gemacht. Und Du solltest auch ein BUDGET werden. Drei Schubladen auf der einen, ein Seitentisch mit Rollfach auf der anderen. Gekostet hast Du damals - wenn ich mich richtig erinnere - knapp 800 Mark. Ein Schnäppchen, selbst wenn man Dich mit den anderen IKEA-Büromöbeln verglichen hat. Und im Vergleich zu heutigem Schrott echt solide verarbeitet. So wird Deine Tischplatte mit soliden M8-Maschinenschrauben befestigt. Deine aus furniertem Span bestehende Tischplatte hat hierfür Gewinde eingearbeitet. Sowas findet man heute nicht mehr; selbst die teuren Büromöbel sind nur noch gespaxt. Und die aus Plastik mit Holzfront gebauten Schubladen gleiten auch nach fast 30 Jahren noch so wie am ersten Tag.

Es kommt mir vor als wäre es gestern gewesen, als ich mich mit dem von CompuCamp geliehenen VW-Bus mit ganz frischem Führerschein auf den Weg ins ferne Kaltenkirchen machte und dort meine erste Bekanntschaft mit der IKEA-Arschkarte, der Warenausgabe, machen durfte. Nur knappe drei Stunden später konnten die sackschweren IKEA-Pakete in Blankenese entladen werden, und am nächsten Tag wast Du aufgebaut.

Du hast in den letzten 29 Jahren sieben Standorte gehabt: Blankenese, Othmarschen, das vom BVE gemietete Zwischenlager in Altona, Karlsruhe, Mannheim, Ilvesheim und schließlich Leimen. Bei jedem wirklich jedem Umzug "durfte" ich Dich komplett auseinanderbauen und neu montieren, denn der Seitentisch war immer auf der falschen Seite. An einem Deiner Standorte musste ich Dir sogar mit der Flex zuleibe rücken, denn dort musste der Seitentisch als Verlängerung dienen und der 90-Grad-Winkel auf Null reduziert werden. Am nächsten Standort durfte der Seitentisch dann wieder an seinen gewohnten Platz.

Der erste Computer, der auf Dir stand, war ein Atari ST mit einem stolzen Megabyte RAM. Die 640x400 Punkte, die der SM 124 in gestochen scharfem Schwarzweiß anzeigen konnte, waren damals astronomisch viel. Die letzten zwei Jahre beherbergtest Du einen Phenom II X6 mit sechs Kernen, 3,2 GHz, insgesamt 4 TB Massenspeicher und 24 GB RAM, der zwei TFT-Monitore mit insgesamt 3200x1200 Pixeln bediente. Das war, als ich diese Monitore anschaffte, ebenfalls astronomisch viel. Zur Befestigung der vielen Kabel warst Du voller Ösen mit Kabelbindern, insgesamt waren 18 Schukosteckdosen und zehn Netzwerkports irgendwo an dir verschraubt, deine Tischplatte wurde dreimal mit der Lochsäge bearbeitet, um Netzwerkdosen und USB-Einbauhubs Platz zu bieten.

Ich habe an Dir für das Abitur und meine ersten Universitätsprüfungen gelernt. Das erstere war erfolgreich, das letztere weniger. Für die folgenden Prüfungen habe ich mich zur Vorbereitung immer in die Studentenbude nach Karlsruhe zurückgezogen, wo Dein Konkurrent, der große weiße von den Speyrer Verwandten geerbte Schreibtisch mit den ständig klemmenden Schubladen stand. Diesen Konkurrenten hast Du überlebt; er hat uns 2007 verlassen, als ich mit Sandra zusammenzog und in der gemeinsamen Wohnung nur noch Platz für einen einzigen Schreibtisch war. So hast Du nach fünfzehn Jahren recht wenig Nutzung die letzten zehn Jahre Deines Lebens wieder den Mittelpunkt meiner Arbeit gebildet.

Aber deine Zeit ist gekommen. Ich wollte Dich schon seit zehn Jahren durch einen endlich höhenverstellbaren Steh-Sitz-Schreibtisch ersetzen, damit ich im Sitzen endlich meine langen Haxen bequem unter dem Tisch verstauen kann und auch endlich bei Dingen, die eine gewisse Bewegungsdynamik erfordern, im Stehen arbeiten kann. Die schwarze Farbe hat schon bessere Zeiten gesehen, so dass an gewissen Stellen die Naturfarbe des Furniers durchschimmert, und - ganz ehrlich, unter uns - schwarze Möbel hat man heute nicht mehr.

Und so habe ich Dich heute abgeräumt, ein letztes Mal abgewischt, alle Einbauten entfernt und dich in den Kellerflur geschoben. An Deinem letzten Platz steht jetzt ein nagelneuer höhenverstellbarer Tisch in Office-Grau, der zusammen mit einem neuen Seitentisch und einem Rollcontainer knapp das vierfache von dem gekostet hat, was ich vor 29 Jahren für Dich bezahlt habe. Auch für deinen Nachfolger habe ich eine weite Reise gemacht, diesmal allerdings ins ferne Karlsruhe, um ihn aus dem Mobelhaus-Quader an der Anschlußstelle Durlach abzuholen.

Ein wenig tut es mir leid, dass ich Dir nicht erlauben konnte, deinen dreißigsten Geburtstag mit mir zu feiern. Aber so ist das Möbelleben. Ich verspreche Dir: Dein Nachfolger wird dieses biblische Alter sehr wahrscheinlich nicht erreichen. Er hat bewegliche, mechanisch verschleißende Teile.

Trackbacks

No Trackbacks

Comments

Display comments as Linear | Threaded

No comments

Add Comment

Markdown format allowed
Enclosing asterisks marks text as bold (*word*), underscore are made via _word_.
Standard emoticons like :-) and ;-) are converted to images.
E-Mail addresses will not be displayed and will only be used for E-Mail notifications.
Form options